Zu viel Glück ist auch nicht gut


Wer im neuen Jahr sein Leben ändern will, kann sich an die üblichen Ratgeber halten. Oder zu einem tausend Jahre alten Buch greifen, dem erstaunlich modernen „Tacuinum sanitatis“ des arabischen Arztes Ibn Butlan. Von Richard Friebe
 
Darf es das „Neue Hausbuch der Gesundheit“ sein, „Die magische 11 der Homöopathie“? Oder doch lieber der neue Ratgeber zur „Säure-Basen-Balance“? Gerade am Jahresanfang haben derlei populäre Sachbücher enorme Konjunktur. Denn die guten Vorsätze sind noch frisch, und beim Kauf fühlt man sich, als ob man es schon fast geschafft hätte, das eigene Leben nachhaltig auf den Gesund-Modus umzustellen.
 
Etwas Gelassenheit gegenüber den allerneuesten Trends kann dabei nicht schaden. In einem vor fast 1000 Jahren erschienenen und in den Jahrhunderten darauf oftmals neu aufgelegten Werk sind nicht nur die Abbildungen viel besser. Man kann dort auch kurze und knappe Gesundheitstipps finden, die so aktuell, nachvollziehbar und ganzheitlich klingen, dass die druckfrischen Ratgeber-Ausgaben sich einiges bei dem Autor abschauen könnten. Die Rede ist von Abu l-Hasan al-Muchtar ibn al-Hasan ibn ‘Abdun ibn Sa‘ dun ibn Butlan, den schon seine Zeitgenossen lieber kurz und knapp Ibn Butlan nannten.
 
Ibn Butlan wurde irgendwann um die vorletzte Jahrtausendwende als Kind nestorianisch christlicher Eltern in Bagdad geboren – damals die wichtigste Wissenschaftsstadt des Erdkreises. Er wurde Arzt, bereiste die Welt, um sich weiterzubilden, und stritt sich immer wieder erbittert mit seinem Kollegen Ibn Ritwan: darüber beispielsweise, ob das Fleisch von Küken im medizinischen Sinne als „heißer“ eingestuft werden müsse als das von Hennen, was gar nicht lustig, sondern eine philosophisch und medizinisch fundamentale Frage war: Nach der damals verbreiteten „Säftelehre“ dient diese Einstufung der Ermittlung einer optimalen Diät im Krankheitsfall.
 
Schließlich ging Ibn Butlan in ein Kloster und schrieb Bücher, darunter „Taqwim al-Sihhah“, später bekannt geworden unter dem lateinischem Titel „Tacuinum sanitatis“. Es ist das erste überlieferte Sachbuch, mit dem ein Autor ganz bewusst versucht, knapp, einfach, anwendbar und allgemeinverständlich das medizinische Wissen der Klassiker und seiner eigenen Zeit zusammenzufassen. Und das kann man getrost als literarische Revolution bezeichnen.
 
Ibn Butlan erspart seinen Lesern allen theoretischen Ballast aus den enzyklopädischen Abhandlungen von Autoren wie Galen, Dioskorides oder Hippokrates und dessen Schülern. Die Öffentlichkeit, hat er erkannt, ist der Ausführungen der Gelehrten und ihrer vielen Essays müde. Was der Mensch von der Wissenschaft wolle, sei „Hilfe – und nicht Demonstrationen und Definitionen“, weshalb er versuche, „lange Abhandlungen zu kürzen“ und „verschiedene Ansichten zusammenzuführen“. Er ordnet die Informationen tabellenartig – eine Methode, die Ptolemäus einst für mathematische Abhandlungen eingeführt, die aber in dieser Form nie jemand für ein medizinisches Thema angewandt hatte.
 
Und er widmet sich nicht allein den klassischen Heilmitteln aus Pflanzen-, Tier- und Mineralienreich, sondern der gesamten physischen und psychischen Umwelt. So hält er nicht nur fest, dass etwa Haselnüsse „gut für das Gehirn“ sind – was auch heutige Mediziner ange- sichts ihres Gehalts an Omega-3-Fettsäuren und dergleichen problemlos unterschreiben würden. Sondern er geht auch auf Klima, sportliche Aktivität und zwischenmenschliche Beziehungen ein. Und bezieht sich dabei auf einen therapeutischen Ansatz, den es in der altgriechischen medizinischen Tradition in Gestalt der „Diaita“ schon einmal gegeben hatte, der aber in Vergessenheit geraten war.
 
In der Frührenaissance ins Lateinische und später auch ins Deutsche als „Schautafeln der Gesundheit“ übersetzt, wurde Ibn Butlans Schrift zum ersten umfassenden
und international publizierten Lifestyle-Ratgeber überhaupt. Die Abbildungen auf diesen Seiten stammen aus einem Prachtmanuskript, das unter der Signatur MS Latin 9333 in weißes Schweinsleder gebunden in der Französischen Nationalbibliothek in Paris liegt und jetzt als Faksimile im spanischen Verlag Moleiro neu erschienen ist. Wahrscheinlich wurde es für Eberhard im Bart (1445-1496), den seit 1495 regierenden ersten Herzog von Württemberg und Teck, oder dessen Eltern angefertigt. Wann das war, ist unklar. Fritz Koreny vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien ordnet den Stil der Miniaturen in die Zeit zwischen 1460 und 1470 ein, während Eberhard König von der Freien Universität Berlin und Stephan Kemperdick vom Frankfurter Städel einen Zeitraum etwa 50 Jahre früher vermuten.
 
Man kann allerdings darüber spekulieren, ob Ibn Butlan sich im Grab herumgedreht hätte, wäre ihm diese Version seines Werkes je zu Gesicht gekommen. Denn nicht nur das von ihm als Innovation eingeführte tabellarische Format ist in dieser wie in den anderen bekannten Abschriften verschwunden – auch die schon beim Autor komprimierten Informationen sind weiter vereinfacht. Er selbst heißt plötzlich aufgrund eines fortgeschriebe-nen Übersetzungsfehlers „Elbocasim von Baldach“, und der eigentliche Text wird von den Bildern bei weitem in den Schatten gestellt. Kein Zufall: Diese Illustrationen sind nicht nur atemberaubend schön, sondern zum Teil auch geradezu frivol mit ihren sich unter Mispeln oder in den Auberginen entkleidenden Paaren mit eindeutigen Absichten, gefährlich rutschenden Bauernhosen und halbwahnsinnig dreinschauenden Busengrapschern. Gerade dieses Manuskript, so schrieb einst der Kunsthistoriker Otto Pächt, sei wie kein anderes Ta- cuinum voller realistischer Darstellungen, die vor subtilem Charme geradezu übersprudelten.
 
Aus heutiger Sicht gehört zu diesem Reiz sicher auch die Kreativität, die der unbekannte Künstler bei Themen offenbart, die er nicht aus eigener Anschauung kannte. Während in anderen Manuskripten manche Seiten ohne Illustration blieben, weil die Künstler nicht recht wussten, was sie malen sollten, ließ der schwäbische Meister in solchen Fällen seiner Phantasie freien Lauf.
 
Eine Bananenstaude etwa, damals im Württembergischen ungefähr so verbreitet wie in Karl- Marx-Stadt zu DDR-Zeiten, sieht bei ihm aus wie eine stilisierte Agave mit Früchten, die eher an verkehrt herum gewachsene rote Birnen erinnern. Auch von Trüffeln wusste der Künstler wohl nur, dass es sich bei ihnen um etwas Pilzartiges handelte – und zeichnete prompt ein paar riesige Scheiben, die ein Jüngling von einem Felsen pflückt. Und auch viele der erotischen Darstellungen fließen dem Künstler aus dem Pinsel, ohne dass der Begleittext auch nur die geringste aphrodisierende Wirkung erwähnt. Die Erfolgs- und Editionsgeschichte des Tacuinum sanitatis über die Jahrhunderte kann nicht nur Buchliebhaber ins Staunen versetzen. Sie erzählt auch beispielhaft die Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters nach, deren Zentren die islamischen, oft von Toleranz und philosophisch-religiöser Vielfalt geprägten Metropolen Arabiens und des Nahen Ostens waren. Dort wurden die lateinischen und griechischen Klassiker ins Arabische übersetzt, von den Gelehrten wie Ibn Butlan oder auch dem besser als Avicenna bekannten Ibn Sina diskutiert, neu interpretiert und philosophisch sowie empirisch ergänzt. Die dabei entstandene Schriften fanden in der frühen Renaissance ihren Weg über Sizilien nach Italien, in die deutschen Fürstentümer und nach Frankreich, wo sie übersetzt und zeitgemäß ediert und illustriert wurden.

Wie so häufig bei Manuskripten aus jener Zeit ist die Vorlage, die der deutsche Künstler benutzt haben muss, heute nicht mehr auffindbar. Ein ähnliches Manuskript, das ebenfalls als Faksimile erhältliche „Wiener Tacuinum“, ist wahrscheinlich Jahrzehnte zuvor in Italien entstanden, und sein Künstler nutzte dieselbe Vorlage, die möglicherweise danach über die Alpen nach Württemberg gelangte.
 
Die aufwendig illustrierten Ausgaben des Tacuinum sanitatis wurden lange als pure Unterhaltungsbücher der herrschenden Klasse angesehen, Kunstwerke, deren Besitzes man sich gerne pries, deren Inhalt aber bestenfalls sekundär war. Der Medizinhistoriker Alain Touvaide von der Smithsonian Institution in Washington, der sich mit allen bekannten Ausgaben beschäftigt hat, widerspricht allerdings dieser Ansicht. Sie waren, so schreibt Touwaide, bei denen, die sie besaßen, „für den täglichen Gebrauch gedacht, als illustrierte medizinische Lehrbücher“. Die jahrhundertealten Ratschläge galten auch in Zeiten neuen wissenschaftlich-medizinischen Aufbruchs noch als korrekt.
 
Und heute? Was selbst Ökotrophologen und Sozial- und Umweltmediziner an Ibn Butlans Zusammenfassung des Medizin-Wissens vor 1000 Jahren überrascht, sind die zahlreichen Übereinstimmungen mit aktuellen Lehrmeinungen – und der den ganzen Menschen berücksichtigende Ansatz. Für den Autor aus Bagdad ist die richtige Ernährung ebenso wichtig wie Sport, ausreichend Schlaf, Kleidung, zuträgliches Klima, gesunde Heizung und Wohnung. Wie selbstverständlich handelt der mittelalterliche Autor Aspekte ab, die sich in der modernen Pharmakologie erst durchzusetzen beginnen, seitdem die Genomforschung Erklärungen dafür gefunden hat – etwa die je nach individueller Konstitution, Umweltbedingungen, Jahreszeit oder individuellem Alter unterschiedliche Wirksamkeit von Substanzen. Ibn Butlan charakterisiert sie, nennt ihre Wirkungen und Nebenwirkungen und auch Mittel gegen diese Nebenwirkungen, so dass sich die Texte des Buches heute wie die gesammelten Beipackzettel der wichtigsten Faktoren von Natur und Lebensumwelt lesen.
 
Auch Besonderheiten der menschlichen Physiologie, über deren Natur und Zweck Wissenschaftler bis heute rätseln, beschreibt er, als ob er den jüngsten Review in einer Fachzeitschrift zusammenfassen würde. Schlaf etwa ist für ihn nicht ein Ruhen des Gehirns, sondern allein ein Ruhen der Sinne – eine Erkenntnis, zu der die Schlafforscher des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nach unzähligen Tierversuchen, Hippocampus-Präparaten und Tomographie-Scans menschlicher Gehirne inzwischen auch gekommen sind. Und Schlaf hat, wie Granatäpfel, Wein, Brot, Salz und all die anderen Nahrungsmittel ebenso positive oder negative Wirkungen auf die Gesundheit. Sogar irdisches „Glück“ selbst, im Manuskript des württembergischen Herzogs dargestellt durch ein Paar in Erwartung von Nachwuchs, ist nicht nur legitimes Ziel, sondern hat für sich wieder Rückwirkungen. Liest man die kurzen Ausführungen zu diesem Thema, kommen sie einem wie die Zusammenfassung eines modernen Psychologiebuches vor: Dass Glück gut für traurige Menschen ist, klingt noch fast banal, dass es im Übermaß zum Tode führt allerdings, ist offensichtlich nichts anderes als eine Warnung vor manischen Zuständen. Und dass man diese Nebenwirkung am besten vermeiden kann, wenn man sich mit „weisen Menschen“ umgibt, könnte in leicht abgewandelter Formulierung auch heute noch Ergebnis eines Therapiegespräches sein.
 
Die menschliche Umwelt ordnet Ibn Butlan in sechs Kategorien von durch den Menschen beeinflussbaren Faktoren: Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe des Körpers, Schlaf, die Körpersäfte sowie Gefühle wie Freude und Furcht. Der Mensch ist für ihn charakterisiert durch eine „labile Natur“ und muss deshalb stetig versuchen, ein inneres Gleichgewicht und ein Gleichgewicht mit seiner Umwelt zu bewahren: „Die Erhaltung der Gesundheit liegt in der Balance, ihre Störung erzeugt Krankheit.“ Und wer Ibn Butlans Buch liest, findet dort das Wissen seiner Zeit über die Stellschrauben dieses Gleichgewichts – und sogar, wie man an ihnen dreht.
 
Modern ist er auch, wenn er einräumt, dass sein Werk trotz all der in ihm enthaltenen Weisheit der „Besten unter den Alten“ sicher nicht ohne Fehler sei und Gott helfen möge, diese zu korrigieren.
 
Im arabischen Original fordert Ibn Butlan nachfolgende Mediziner- und Forschergenerationen so- gar dazu auf, Unklarheiten durch rigorose Experimente auszuräumen und die Ratschläge, wenn es sein muss, zu korrigieren. Derlei vermisst man in heutigen Gesundheits- oder Ernährungsratgebern nur allzu oft.
 
Ein Faksimile der Pariser Handschrift des „Tacuinum Sanitatis ist jetzt im Verlag M. Moleiro (Barcelona) erschienen. Ihm sind die Abbildungen auf dieser Seite entnommen. Im Internet: www.moleiro.com.

 

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